Grenzen von KI

Künstliche Intelligenz im Übersetzungsprozess: Wo sind die Grenzen?

Künstliche Intelligenz revolutioniert die Übersetzungsbranche. Moderne Sprachmodelle übersetzen binnen Sekunden komplexe Texte, prüfen die Übersetzungsqualität und schlagen Verbesserungen vor. Ihre Ergebnisse wirken oft so natürlich und präzise, dass man leicht vergisst: Diese Systeme “verstehen” Sprache grundlegend anders als Menschen. Gerade bei anspruchsvollen Übersetzungsaufgaben führt dies zu überraschenden Fehlern und Inkonsistenzen.

Um zu verstehen warum, müssen wir einen Blick unter die Haube werfen: Wie funktionieren diese Systeme eigentlich, und wo liegen ihre strukturellen Grenzen?

Menschliche vs. maschinelle Sprachverarbeitung: Ein fundamentaler Unterschied

Menschen lernen Sprache nicht wie ein Lexikon. Wenn ein Kind das Wort “Apfel” lernt, verknüpft es dieses nicht nur mit einer Definition, sondern mit sinnlichen Erfahrungen: dem süßen Geschmack, dem knackigen Geräusch beim Beißen, der runden Form in der Hand. Diese verkörperte Spracherfahrung (embodied language) macht menschliches Sprachverständnis so reich und kontextabhängig.

Darüber hinaus prägen Bildung, Alter, persönliche Erfahrungen und kultureller Hintergrund unser Sprachverständnis fundamental. Menschen verstehen Humor, respektieren Tabus und erkennen historische oder sozialpolitische Referenzen. Sie können zwischen den Zeilen lesen und kulturelle Nuancen erfassen, die weit über die reine Wortbedeutung hinausgehen.

Sprachmodelle hingegen lernen aus Millionen von Textbeispielen statistische Muster. Sie erkennen, dass nach “Der Apfel ist” wahrscheinlich Wörter wie “rot”, “süß” oder “reif” folgen. Aber sie haben nie einen Apfel gesehen, geschmeckt oder gerochen. Ihr “Verständnis” basiert ausschließlich auf mathematischen Berechnungen über Worthäufigkeiten und Kontextmuster.

Ein praktisches Beispiel: Wenn identische Bedeutungen zu unterschiedlichen Bewertungen führen

Sehen wir uns ein konkretes Beispiel aus der Qualitätskontrolle einer technischen Übersetzung an:

Deutscher Originaltext A: “Der Not-Aus-Schalter befindet sich rechts neben dem Bedienfeld.”

Übersetzung A: “The emergency stop button is located to the right of the control panel.”

Deutscher Originaltext B: “Der Not-Aus-Schalter ist unterhalb des Displays angebracht.”

Übersetzung B: “The emergency stop button is positioned below the display.”

Beide Übersetzungen sind fachlich korrekt und verwenden angemessene Terminologie. Dennoch könnte ein KI-System – speziell LLMs und generative KI-Systeme, die für die Qualitätskontrolle eingesetzt werden – diese unterschiedlich bewerten: Übersetzung A als “technisch präzise”, Übersetzung B als “nicht technisch genug”. Warum passiert das?

Wie Maschinen Bedeutung in Zahlen verwandeln

Um Text zu verarbeiten, müssen Sprachmodelle zunächst Wörter in eine für Computer verständliche Form bringen. Dieser Prozess erfolgt in mehreren Schritten:

Von Wörtern zu Tokens

Zuerst wird der Text in Tokens zerlegt – die kleinsten Verarbeitungseinheiten des Modells. Ein Token kann ein ganzes Wort (“Schalter”), ein Wortfragment (“Not-” und “Aus-”) oder sogar ein einzelnes Zeichen sein. Diese Tokenisierung erfolgt nicht nach linguistischen Regeln, sondern nach statistischen Häufigkeitsmustern im Trainingsdatensatz.

Embeddings: Die numerische Repräsentation

Diese Tokens werden dann in sogenannte Embeddings umgewandelt – hochdimensionale Zahlenvektoren (oft 12.000+ Dimensionen), die die Bedeutung im jeweiligen Kontext repräsentieren. Vereinfacht dargestellt könnte das so aussehen:

Satz Embedding für “Not-Aus-Schalter”
A [0.51, 0.49, 0.32, …]
B [0.50, 0.50, 0.31, …]

Wichtig zu verstehen: Diese Zahlen haben keine direkte, lesbare Bedeutung. Eine einzelne Zahl wie “0.51” bedeutet isoliert betrachtet nichts – erst alle Zahlen gemeinsam ergeben eine sinnvolle Repräsentation des Tokens. Diese verteilte Repräsentation entsteht während des Trainings durch komplexe mathematische Optimierungsprozesse.

Das Kontextfenster: Begrenzte Aufmerksamkeitsspanne

Moderne Sprachmodelle können gleichzeitig nur eine begrenzte Anzahl von Tokens verarbeiten – ihr Kontextfenster. Während ein Modell vielleicht 50.000 verschiedene Tokens “kennt” (Vokabulargröße), kann es nur 8.000 bis 32.000 Tokens gleichzeitig “im Blick behalten”. Bei längeren Texten “vergisst” es frühere Inhalte.

Transformer und Attention: Wie Kontext entsteht

Das Herzstück moderner Sprachmodelle ist der Transformer, der durch Self-Attention funktioniert. Vereinfacht gesagt berechnet das System für jedes Token, wie stark es auf alle anderen Tokens achten soll – gewichtet durch die Ähnlichkeit zwischen Query- und Key-Vektor, mit anderen Worten welche anderen Tokens im Kontext wichtig sind. Dabei entstehen aus jedem Embedding drei neue Vektoren:

  • Query (Q): “Wonach sucht dieses Token?”
  • Key (K): “Wofür steht dieses Token?”
  • Value (V): “Welche Information trägt dieses Token?”

Diese winzigen numerischen Unterschiede entstehen durch minimale Kontextunterschiede: “rechts neben” vs. “unterhalb” oder “Bedienfeld” vs. “Display”. Für Menschen sind das unbedeutende Variationen – für die KI können sie entscheidend sein.

Die Mathematik hinter den Entscheidungen: Die Softmax-Funktion

Der Sprung von Zahlen zu Entscheidungen erfolgt über verschiedene mathematische Funktionen, von denen die Softmax-Funktion eine der wichtigsten ist. Sie ist ein typisches Beispiel dafür, wie KI-Systeme Wahrscheinlichkeiten berechnen:

 

Softmax-Funktion
Softmax-Funktion

Was bedeutet das konkret?

  • P_i: Die berechnete Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Bewertung (z.B. vom Modell generierte Antwort: “Terminologie korrekt”)
  • x_i: Der numerische Eingabewert aus dem Embedding
  • e: Die Eulersche Zahl (≈ 2.718)
  • : Die Summe über alle möglichen Bewertungsoptionen

Wenden wir das auf unser Beispiel an, wo eine KI die Terminologie-Qualität der beiden Übersetzungen bewerten soll:

Terminologie-Bewertung Satz A (0.51) → Softmax Satz B (0.50) → Softmax
“Terminologie korrekt” ≈ 51.2% ≈ 50.0%
“Terminologie ungeeignet” ≈ 48.8% ≈ 50.0%

Der entscheidende Punkt: Die Softmax-Funktion verstärkt selbst winzigste Unterschiede exponentiell. Ein Eingabewert von 0.51 statt 0.50 reicht aus, um die Bewertung von “unsicher” zu “technisch korrekt” kippen zu lassen.

Der Butterfly-Effekt in der KI

Dieses Phänomen erinnert an den Butterfly Effekt aus der Chaostheorie: Minimale Änderungen in den Eingangsbedingungen führen zu dramatisch unterschiedlichen Ergebnissen. In unserem Fall kann das Ersetzen eines einzigen Wortes – “befindet sich” statt “ist angebracht” – die gesamte Bewertung verändern, obwohl die Bedeutung praktisch identisch bleibt.

Warum das in der Praxis problematisch ist

Diese mathematisch bedingte Instabilität führt zu konkreten Problemen:

Das Problem der Terminologie-Inkonsistenz

Stellen Sie sich vor, ein medizinischer Text verwendet zunächst “Studienteilnehmer” und übersetzt dies korrekt mit “study participants”. Wenige Absätze später erscheint derselbe Begriff in einem minimal anderen Kontext: “Die Studienteilnehmer wurden randomisiert.” Plötzlich schlägt die KI “subjects were randomized” vor und markiert die ursprünglich korrekte Übersetzung sogar als Fehler.

Warum passiert das? Durch die veränderte Satzstruktur (“wurden randomisiert” vs. vorheriger Kontext) ändern sich die Embeddings minimal. Diese winzigen Änderungen genügen, um die Wahrscheinlichkeitsberechnungen zu verschieben und eine andere “optimale” Übersetzung zu generieren.

Konsistenz vs. Kontext: Ein unlösbarer Konflikt

Für Fachübersetzer ist terminologische Konsistenz essentiell. Ein einmal festgelegter Begriff sollte durchgängig verwendet werden. KI-Systeme hingegen optimieren jeden Satz isoliert für den jeweiligen Kontext. Sie erkennen nicht, dass “study participants” und “subjects” zwar beide korrekt, aber inkonsistent sind.

Das Spektrum der KI-Probleme geht weit über Terminologie hinaus

Neben Konsistenzproblemen zeigen sich weitere systematische Schwächen:

  • Halluzinationen: KI-Systeme erfinden plausible, aber falsche Informationen, besonders bei Fachbegriffen oder seltenen Konzepten
  • Eigennamenfehler: Namen von Personen, Orten oder Marken werden oft falsch übersetzt oder unlogisch angepasst
  • Grammatikalische Inkonsistenzen: Aufgrund der Token-basierten Verarbeitung entstehen Flexionsfehler oder fehlende Kongruenz zwischen Satzteilen
  • Kontextverlust: Pronomen und Verweise können falsch zugeordnet werden, wenn der relevante Kontext außerhalb des Verarbeitungsfensters liegt

Ein fundamentales Problem: Anweisungen sind keine Gesetze

Ein weiteres strukturelles Problem liegt in der Art, wie KI-Systeme mit Anweisungen umgehen. Anders als bei strukturierten Programmiersprachen mit fester Syntax, die vorhersagbare Ergebnisse liefern, folgen KI-Modelle Prompts nicht deterministisch.

Selbst explizite Anweisungen wie “Übersetze nur die Wörter, ändere keine Zahlen” werden nur probabilistisch interpretiert. Das System berechnet lediglich, wie wahrscheinlich es ist, dass eine bestimmte Antwort den Erwartungen entspricht – es führt keine Befehle im eigentlichen Sinne aus. Dies erklärt, warum selbst bei identischen Eingaben unterschiedliche Ergebnisse entstehen können.

Grenzen sind systembedingt, nicht technisch

Diese Probleme von KI-Modellen sind keine Kinderkrankheiten, die sich mit mehr Rechenleistung oder besseren Trainingsdaten lösen lassen. Sie sind strukturelle Eigenschaften der Funktionsweise von Sprachmodellen:

  1. Kein echtes Regelverständnis: Sprachmodelle befolgen keine festen Regeln, sondern berechnen Wahrscheinlichkeiten
  2. Kontextfenster-Beschränkungen: KI-Anwendungen neigen dazu, zu lange Kontexte zu vergessen – frühere Textteile verschwinden aus dem “Gedächtnis”
  3. Tokenisierung-Probleme: Zusammengesetzte Begriffe werden oft unintuitiv zerlegt. Beispiel: “Maschinenbauingenieur” könnte in “Maschinen”, “bau” und “ingenieur” aufgeteilt werden, wodurch der Gesamtbegriff seine einheitliche Bedeutung verliert. Dies führt zu fehlerhaften Übersetzungen zusammengesetzter Fachbegriffe.
  4. Fehlende Welterfahrung: Ohne sinnliche Erfahrung bleibt Bedeutung eine abstrakte Zahl ohne Bezug zur Wirklichkeit

Wie man trotzdem bessere Ergebnisse erzielt

Obwohl die Grundprobleme nicht lösbar sind, gibt es Strategien zur Verbesserung:

Chain-of-Thought-Prompting

Statt einer Gesamtaufgabe werden logische Einzelschritte definiert:

Umsetzungsbeispiel: ZAHLENANALYSE bei der Qualitätssicherung:

  1. “Extrahiere alle Zahlen aus dem Ausgangssegment (auch ausgeschriebene)”
  2. “Extrahiere alle Zahlen aus dem Zielsegment (auch ausgeschriebene)”
  3. “Vergleiche die Zahlenwerte – müssen identisch sein”

Few-Shot-Learning mit Beispielen

Das Modell erhält positive und negative Beispiele, die die gewünschten Muster verdeutlichen und die Wahrscheinlichkeitsverteilung stabilisieren.

Agentic AI: Spezialisierte Teilaufgaben

Verschiedene Modell-Instanzen übernehmen koordinierte Rollen – eine prüft Terminologie, eine andere Grammatik, eine dritte den Stil.

Integration externer Systeme

APIs und Datenbanken für normierte Terminologie werden direkt in den Übersetzungsprozess eingebunden. Dazu gehören auch Named-Entity-Datenbanken für Eigennamen oder spezialisierte Natural Language Processing-Bibliotheken wie spaCy, die grammatikalische Strukturen erkennen und linguistische Regeln durchsetzen können.

Warum Menschen unverzichtbar bleiben

Alle Optimierungen verbessern die Stabilität, lösen aber das Grundproblem nicht: KI simuliert Sprache, versteht sie aber nicht. In Situationen, die kulturelle Kompetenz, kreative Lösungen oder individuelle Urteilskraft erfordern, sind Menschen unverzichtbar.

Ein Beispiel: Soll “Mitnahmeverbot” mit “ban on transport”, “prohibition of carriage” oder “no taking along” übersetzt werden? Die Antwort hängt von Zielgruppe, Kontext und Dokumenttyp ab – Faktoren, die sich nicht aus Token-Wahrscheinlichkeiten ableiten lassen.

Die Stärken richtig nutzen

Sprachmodelle haben durchaus ihre Berechtigung – wenn man ihre Grenzen kennt:

  • Terminologie-Extraktion aus großen Textmengen
  • Erste Übersetzungsentwürfe mit anschließender Profi-Bearbeitung
  • Semantische Prüfung von Übersetzungen
  • Stilistische Vereinheitlichung von Texten

Der Schlüssel liegt im bewussten Einsatz: KI als mächtiges Werkzeug in den Händen kompetenter Fachkräfte, nicht als Ersatz für menschliche Expertise.

Fazit: Verstehen statt verdammen

Large Language Models sind beeindruckende Technologien mit klaren strukturellen Grenzen. Diese Grenzen sind nicht Schwächen der aktuellen Generation, sondern mathematisch bedingte Eigenschaften ihres Funktionsprinzips.

Wer diese Grenzen versteht, kann KI-Systeme gezielt und erfolgreich einsetzen: als schnelle, skalierbare Assistenten in einem fachlich verantworteten Übersetzungsprozess. Die Zukunft liegt nicht im Kampf Mensch vs. Maschine, sondern in der intelligenten Kombination beider Stärken.

 

Fußnote: Der Butterfly-Effekt beschreibt in der Chaostheorie das Phänomen, dass kleinste Änderungen in den Anfangsbedingungen eines dynamischen Systems zu erheblich unterschiedlichen Ergebnissen führen können – benannt nach dem populären Beispiel, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen könnte.

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