Ein Oberbegriff ist wie der berühmte „Wolf im Schafspelz“. Unauffällig, unscheinbar, aber doch potenziell gefährlich. Er ist Teil unseres Alltags. Nur selten wird er bewusst eingesetzt oder wahrgenommen. In der Kommunikation spielt er jedoch eine wichtige Rolle. Es ist also Zeit, ihn etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.
Wir möchten herausfinden, wie häufig eigentlich Oberbegriffe in der technischen Kommunikation vorkommen, wie und warum der Redakteur sie wählt und ob sie Probleme verursachen, wenn es darauf ankommt, Sachverhalte exakt zu vermitteln oder zu übersetzen.
Rückblick
Bereits in den siebziger Jahren versuchten verschiedene Kognitionswissenschaftler wie beispielsweise die amerikanische Psychologin Eleanor Rosch, den Zusammenhang zwischen Benennungsauswahl und Gegenstand zu analysieren. Menschen haben im Grunde die Wahl zwischen einem sehr allgemeinen Oberbegriff, einer etwas präziseren Kategorie oder dem exakten Fachbegriff. Wenn sie sich für den „Mittelfeld-Begriff“ entscheiden, wie es oft der Fall ist, was verstehen sie eigentlich darunter?
Eleanor Rosch wies nach, dass Menschen damit nicht alle Objekte verbinden, die der Begriff abdeckt, sondern eher einen typischen Vertreter dieses Begriffs, einen Prototyp. Was für ein Prototyp es ist, ist u. a. kulturbedingt. Wenn beispielsweise Testpersonen gefragt wurden, worauf sie sitzen, haben die meisten den Begriff Stuhl und nicht den genaueren Unterbegriff Küchenstuhl oder einen allgemeineren Oberbegriff wie Möbelstück verwendet.
Begriffe und Benennungen heute
Diese Beobachtung bildet bis heute die Basis für den Umgang mit Begriffen und Benennungen in der technischen Dokumentation. Redakteure neigen dazu, einen eher allgemeinen „Mittelfeld-Begriff“ auszuwählen, stellen sich aber darunter meistens einen typischen Anwendungsfall vor. So wird ein Redakteur in einem bestimmten Industriebereich von Ventilen reden, aber eigentlich je nach Dokumentationsprojekt beispielsweise Druckbegrenzungsventile oder Druckschaltventile meinen.
Ähnliche Beobachtungen kommen aus dem Bereich der quantitativen Linguistik. Sprache folgt dem Prinzip der geringsten Anstrengung. Demnach versuchen die Teilnehmer der Kommunikation, möglichst mühelos miteinander zu kommunizieren. Für denjenigen, der etwas mitteilt, ist es leichter, sehr allgemeine Oberbegriffe zu verwenden, etwa: „Drehen Sie den Knopf nach rechts“. Dagegen ist es für den Empfänger dieser Mitteilung weniger anstrengend, wenn er eindeutige Benennungen hört und sich keine Gedanken über das tatsächlich Gemeinte machen muss: „Drehen Sie den Potentiometer nach rechts“. Eine Art Kommunikationsgleichgewicht wird erreicht, wenn Redner und Hörer sich ausreichend verstehen.
Der amerikanische Sprachwissenschaftler George Kingsley Zipf ist für seine statistischen Analysen der Häufigkeitsverteilung von Wörtern oder Bedeutungen in Texten bekannt. Seine Analysen untermauern die Beobachtung, dass Menschen eher kürzere Wörter (Kurzformen, aber auch Oberbegriffe) verwenden. Folgenreich ist aber dass Benennungen in Oberbegriffen nicht nur eine allgemeine Bedeutung haben können, sondern oft mehrere (daher der Titel dieses Artikels „der verflixte Oberbegriff“). Mit anderen Worten: Sie haben Homonyme. Häufige Wörter können daher für mehrere Bedeutungen stehen: Rahmen, Anlage, Bereich, Leitung…. Und nicht selten hat die Firmenterminologie nur eine dieser Bedeutungsvarianten erfasst.
Unsere Untersuchung von fünf Translation-Memory-Systemen
Gelten diese Beobachtungen auch für die technische Dokumentation? Kommen Oberbegriffe wirklich so oft vor und kann es sein, dass sie alle mehrdeutig sind? Unsere empirische Untersuchung von fünf Translation-Memorys unterschiedlicher Firmen mit einem Umfang zwischen ca. 100 und 400.000 Segmenten hat einiges zutage befördert.
Erstens stimmt es, dass Oberbegriffe trotz Redaktionsleitfaden und mehr oder weniger kontrollierter Sprache eingesetzt werden. Ihr Vorkommen ist nicht in jedem einzelnen Fall massiv, aber ausreichend, um Handlungsbedarf zu begründen. Wir haben festgestellt, dass diese Oberbegriffe teils gewollt, teils ungewollt verwendet wurden.
Ferner haben wir festgestellt, dass bei den häufigeren Oberbegriffen nicht alle ausschließlich eine Zusammenfassung mehrerer Unterbegriffe wie Pumpe für Schneckenpumpe, Vakuumpumpe usw. darstellen. Ein Teil davon ist auch mehrdeutig, d. h. sie können auch komplett unterschiedliche Begriffe (Homonyme) wie System, Einheit oder Leistung abdecken. Ein typisches Beispiel dafür ist die Benennung Anlage, die ein Unternehmen gleich in fünf unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Einmal im Sinne von Positionieren (die spielfreie Anlage des Werkzeugs) einmal im Sinne von E-Mail-Anlage, einmal im Sinne von Anlage eines Datensatzes, einmal im Sinne einer Geldanlage und schließlich als Oberbegriff für verschiedene Unterbegriffe (Hydraulikanlage, elektrische Anlage, mechanische Anlage). Da nicht jede Bedeutungsvariante von Anlage in der Terminologie steht, gibt es keine softwaregestützte Möglichkeit, die Verwendung des Begriffs bzw. der entsprechenden Übersetzungen umfassend zu prüfen. Das ist leider bei vielen Firmen der Fall.
Mengenmäßig zeigte unsere Untersuchung der betreffenden Translation-Memorys, dass bei jedem Unternehmen die häufigeren Oberbegriffe wie Schraube, Sicherung, Gerät, Rahmen entweder alleinstehend oder als Teil von Komposita (Rahmengestell) in drei- bis vierstelliger Größenordnung vorkamen (etwa 1000 Vorkommnisse bei unserem obigen Anlage-Beispiel). Alleinstehende Oberbegriffe wurden im Vergleich zu den präziseren Begriffen oder Komposita in 10 bis 30 % der Fälle beobachtet.
Fazit
Was bedeuten diese Feststellungen konkret für die Arbeit von Redakteuren, Übersetzern oder Terminologen? Offensichtlich haben wir sowohl in den gespeicherten Informationsinhalten (in Redaktionssystemen, Translation-Memorys) als auch in den Terminologiedatenbanken einen nicht ausreichend aufgearbeiteten Bestand an Oberbegriffen. Viele Terminologen verzichten sogar auf die Erfassung von Oberbegriffen, weil sie sie irrtümlicherweise als zu allgemein oder zu leicht verständlich betrachten („Jeder versteht, was ein Gerät ist“). Und wenn sie einen solchen Oberbegriff erfassen, dann in der Annahme, dass dieser Begriff nur eine Bedeutung haben kann, was aber unsere Untersuchung eindeutig widerlegt.
Die heutigen Prozesse der Erstellung technischer Informationen bzw. von Übersetzungen sind stark fragmentiert. Zunehmend werden vorhandene Datensätze unabhängig vom aktuellen Kontext wiederverwendet. Die Gefahr ist groß, dass beim Einsatz dieser Einheiten in anderen Kontexten oder Dokumenten der verwendete Oberbegriff eine komplett andere Bedeutung annimmt und im Deutschen wie auch in den Fremdsprachen missverstanden werden kann.
Es ist daher Gebot der Stunde, dieses Thema aktiv anzugehen und für eine eindeutige Begriffsauswahl zu sorgen. Das bedeutet beispielsweise, dass möglichst viele Oberbegriffsbenennungen als verbotene Benennung unter den Unterbegriffen bzw. Homonymen erfasst werden sollten. Einfaches Beispiel:
Die Erfahrung bei der Qualitätssicherung von Dokumentationen oder Übersetzungen zeigt, dass dieses Thema nicht auf die leichte Schulter genommen werden darf. Eine gut gepflegte Firmenterminologie und entsprechende Prüfsoftware kann Abhilfe schaffen.
Hier finden Sie unser LookUp Terminologie-Verwaltungssystem: LookUp